Weite, endlose Weite, denke ich, als wir von der Domäne Bill über das graue Nass zurück laufen. Und da kommt sie mir in den Sinn, die unendliche Geschichte.
Schier unendlich zieht er sich dahin, der Strand von Juist, gesäumt von den vom Wind zerfressenen Dünen zu unserer Rechten und dem tosenden, grauen Meer mit seinen weißen Schaumkronen zu unserer Linken. Noch ist das Dorf nicht zu sehen, noch nicht einmal der gelbe Turm Nummer 5, der den Sommergästen den Weg zu ihren Häusern und Zimmern im Loog weist.
Dafür bläst der Wind von hinten und fegt den weißen Sand und uns über den Strand.
Tag 2 auf Juist wird ein Wandertag.
Über die Landseite an der Inselschule vorbei laufen wir bei Gegenwind zum Loog, dem kleinen Dorf im Westen der Insel, in dem das Inselmuseum und die Jugendherberge zu Hause sind. Neben ein paar Häusern gibt es außerdem einen Edeka, den Ableger vom Lütje Teehus im “großen” Dorf und noch etwas weiter westlich, kurz vor dem Hammersee die Domäne Loog.
Das Wort Domäne hat seine Wurzel im Lateinischen und Französischen: “domaine” steht im Französischen für Herrschaft oder Herrschaftsbereich, bei uns bezeichnet das Wort Domäne ein Landgut, wobei es sich auf Juist eher um ein einfaches Bauernhaus mit Viehbetrieb und Eigenproduktion von Lebensmitteln handelt.
Unser heutiges Ziel befindet sich am hintersten Ende, tief im Westen der Insel und heißt Domäne Bill. Der Weg ist einigermaßen weit, etwa sieben Kilometer dürfen wir ab dem Juister Dorf gegen die steife Brise aus Nordwest zurück legen. Wir laufen entlang des Hammersees, links von uns das Watt dessen Gräben und Wiesen jetzt am Vormittag noch von der Flut überschwemmt liegen. Einige Möwen haben sich auf dem harten Gras niedergelassen, sie entscheiden sich bei Windstärke sechs bis sieben offenbar auch für den Fußweg.
Hammersee und Sturmflut
Um dem Wind zu entkommen biegen wir schließlich auf den Sandweg zur Westseite des Hammersees ab. Sein Name geht auf das friesische Wort “Hammer” zurück, das “niedrig gelegene, feuchte Wiese” bedeutet. Er kennzeichnet die Stelle, an der die Insel bei einer schweren Sturmflut im Jahre 1651, zweigeteilt wurde. Erst im Jahr 1932 wurden die getrennten Inselteile wieder über einen Dünendamm verbunden. Die sogenannten Hammerdünen zählen zu den schönsten Dünen der Insel, auch wenn Fachleute erkennen können, dass die Dünen ihr Dasein keinem natürlichen Ursprung verdanken sondern von Menschenhand geschaffen wurden. Heute wird der Hammersee langsam immer kleiner, denn er verlandet vor allem nach Westen hin mehr und mehr. Zahlreiche Tier- und Pflanzenarten haben den See und seine Umgebung zu ihrer Heimat und einem riesige Biotop gemacht. Rund um den Hammersee führt ein Wanderweg mit zahlreichen Aussichtsplattformen von denen man Landschaft und Tiere wunderbar mit einem Fernglas beobachten kann.
Juist hat eine Faszination, die es so wahrscheinlich nur einmal oder jedenfalls nicht häufig gibt auf einer Insel: an bestimmten Punkten der Insel sieht man auf der einen Seite das Watt und gleichzeitig, man muss nur den Kopf ein wenig drehen, das offene Meer auf der anderen Seite. Jedes Mal wieder staune ich darüber: dort das platte Wasser des Watts und gegenüber die See.
Einkehren am Bill: Rosinenstuten mit Butter, was sonst?
Nach etwa eineinhalb Stunden haben wir unser Ziel, die Domäne Bill, erreicht. Das rote Bauernhaus mit seinem tiefgezogenen Dach liegt am äußersten Ende der Insel im Westen. Wer nicht zu Fuß gehen möchte, kann natürlich auch mit dem Fahrrad oder noch bequemer mit der Kutsche dorthin gelangen. Und der Weg lohnt sich, denn nur hier gibt es den unvergleichlichen, selbst gemachten Rosinenstuten mit Butter.
Der Rückweg führt uns am Endlos-Strand entlang zurück zum Dorf. Gute weitere eineinhalb Stunden dauert das, je nach Windrichtung ein wenig länger oder kürzer. Der Wind zerrt an den Dünenhängen, sie werden hier an der Westseite immer wieder aufgeschüttet und verstärkt. Eine echte Sisyphos-Arbeit.
Die Fußmärsche am Strand haben etwas durchaus meditatives. Wir setzen einen Schritt vor den anderen, hören das tosende Meer und das Pfeifen des Windes; eine Unterhaltung wäre viel zu anstrengend und beinah störend. Die Natur unterhält sich auf ihre Weise mit uns, während wir eingepackt in dicke Jacken und vermummt mit Schal und Mütze dahin schreiten.
Irgendwann taucht weit hinten am Horizont die Koppel des Kurhauses auf und schemenhaft zeichnet sich die Spitze des Wasserturms vor dem grauen Himmel ab.
Irgendwann beginnt es zu regnen. Irgendwann kommen wir nass zurück in die warme Eingangshalle des Hotels, säubern unsere sandigen Schuhe, entledigen uns unserer nassen Jacken und spüren die Wärme. Eines ist klar: heute Nacht werden wir gut schlafen.
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