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Winterlandschaft

Eiszeit auf Juist – ein nostalgischer Rückblick

By 5. Januar 2016 Deutschland, Popular Posts, Unterwegs
Juist - Fotolia _TohPics

„Ich hab kein Bock mehr! Wieso fahren wir auch auf diese bescheuerte Insel, von der man nicht mehr runter kommt?“ Ein Teil aus einem Sketch? Nee, die pure Wahrheit. Ich sitze im Lütje Teehus und es gibt nur ein Thema: die Eiszeit auf Juist. Es wird gesprochen vom Ostwind, der das Wasser wegbläst, von sich dem Ende neigenden Lebensmittelvorräten auf der Insel, von Naturgewalt, für die ja keiner was kann und von Arbeitgebern, die damit leben müssten. “Bei Naturgewalt muss man sich keinen Urlaub nehmen”, ist sich ein Herr am Nachbartisch sicher. Fakt ist: keiner kommt derzeit weg von Juist. Die Schiffe können nicht passieren und die Flieger nicht starten, denn zum scharfen Ostwind hat sich Eisregen gesellt. Ausnahmezustand.

Eiszeit auf Juist

Eiszeit auf Juist so wie ich es als 17jährige in Erinnerung habe – @Fotolia_TohPics

Pferdepause – Juist versinkt im Eis

Der Hund schlummert faul unter dem Tisch, er scheint die unfreiwillige Pause seiner Herrchen zu geniessen. Meine vier Tischnachbarn samt pubertierender und sichtlich genervter Tochter schlagen die Zeit tot. Wie alle hier, denn draußen bewegen kann man sich nicht, viel zu glatt geschliffen sind die eisverkrusteten Straßen und Wege. Kein Pferdegtrappel, keine Kutschen, keine Fahrräder, nur wie auf Eiern laufende, schlitternde Menschen und Hunde, erstere dick eingepackt in alles, was der mitgebrachte Kleiderschrank her gibt. „So ist das eben auf Juist“, bemerkt die Mutter trocken. “So ist die Natur und damit müssen wir uns abfinden.” “Is’ doch scheiße”, grummelt die Tochter entnervt und nimmt noch einen Schluck Kakao.

Ein nostalgischer Rückblick

Ich saß zuletzt fest, als ich in der 12. Klasse war. Damals, mit 17,  hatte ich Silvester auf Juist verbracht, wir hatten es krachen lassen, mit Insel-Freunden, also solchen Freunden, die ich nur von der Insel kannte. Irgendwann waren wir uns über den Weg gelaufen, am Strand, im Zappel, der Inseldisco, oder im Köbes, der Inselkneipe, in die man eben ging. Man freundete sich an und wir trafen uns in diesen Jahren regelmäßig zu Silvester, Pfingsten und manchmal auch im Sommer.

Ausziehen, bitte! Bettgeschichte im Anmarsch!

Wir wohnten in für friesische Verhältnisse günstigen, aus heutiger Sicht zumeist recht grauseligen 70er Jahre-Unterkünften, mal allein, häufiger zu zweit mit mehr oder weniger bekannten Gesichtern, das war ja auch egal, damals, als es einzig darum ging, auf die Insel zu kommen und möglichst viel zu feiern und möglichst wenig zu schlafen. Das klappte immer gut. Ab und zu musste das Zimmer geräumt werden. Das geschah immer dann, wenn der oder die Zimmergenossin eine Bettgeschichte anschleppte. Dann musste man sehen, wo man blieb. Das war ok, da hielten wir zusammen.

In diesem Winter bedauerte ich das Hängenbleiben auf der Insel keinen einzigen Augenblick, denn ich war verliebt. Nicht nur in Juist sondern noch dazu in einen Jungen, einen Sänger mit langen, lockigen Haaren. Er studierte schon während ich das leidige Abitur vor mir herschob. Ich fühlte mich ständig zwischen Weinen und Lachen, Fliegen und über Wolken gehen. In meiner Erinnerung war es eines der wunderschönsten Silvesterfeste meines Lebens. Wir feierten im ersten Stock der damaligen In-Kneipe Köbes bis in den Morgen hinein, schliefen ein paar Stunden, um uns alsbald wieder zum Frühschoppen vor der Tür desselbigen zu treffen. Die Tage verrannen wie Sand zwischen den Fingern, natürlich viel zu schnell. Und das, obwohl wir unsere Uhren mit einem Juist-Aufkleber abgeklebt hatten, das machten wir zu der Zeit immer sobald wir die Fähre nach Juist betraten. Der Ausnahmezustand konnte beginnen und das tat er jedes Mal zuverlässig, doch zu unserem Leidwesen kannte die Zeit schon damals keine Gnade. Sie trabte trotzdem munter weiter und wir taten alles dafür, sie mit möglichst viel Inhalt zu füllen: reden, feiern, rauchen, spazieren gehen (einige von uns taten das natürlich nie) und bloss nicht schlafen.

Juist - Winterstaub

Juist – Schneestaub auf der Bank im Loog auf dem Weg zum Hammersee – wie damals @Fotolia_mahey

Kein Entkommen – und noch ein Grund mehr zum Feiern!

Als klar wurde, dass aufgrund des strammen Ostwinds und wabernden Nebels weder Fähre noch Flieger irgendjemanden von der Insel würde transportieren können, jubelten wir wie die Könige und empfanden die geschenkte Zeit als das größte Glück der Erde. 24 oder gar 48 Stunden mehr auf unserer Insel, mehr Zeit zusammen, mehr Zeit ohne Schule und Eltern und Verpflichtungen, die hier auf Juist nichts verloren hatten. Schnell war ausgemacht, wer wo mit wem übernachten könnte – um Geld zu sparen und sowieso. Es lief alles wie von selbst, war glasklar auch ohne viele Worte.

Einige der älteren Juistfreunde sahen die Sache weniger entspannt, sie hatten wichtige Termine und glaubten, dringend zurück zu müssen. Mir war das damals unverständlich. Ab dem zweiten, unfreiwillig auf Juist verbrachten Tag saßen sie auf gepackten Koffern, telefonierten ständig mit den Inselfliegern und machten sich ein ums andere Mal zum Flughafen auf in der Hoffnung, es vielleicht doch auf einen der Flieger  zu schaffen. Am dritten Tag hatte sich der Bekanntenstamm merklich reduziert, die meisten  waren ausgeflogen.

Wir anderen hätten vermutlich ewig auf der Insel bleiben können, wen interessierte schon die Schule und das bevorstehende Abi? Die paar Tage, mein Gott. Meine Eltern glaubten mir erst, nachdem eine kurze Meldung in der FAZ erschienen war und ihnen schwarz auf weiss bestätigte, dass mehrere hundert Gäste auf Juist festgesessen hatten. Handys gab es damals noch nicht, keine sozialen Kanäle, die etwas von der Insel hätten twittern können. Es gab genau drei Telefonzellen auf Juist, sie standen gleich neben der katholischen Kirche und es bildete sich meistens und zu dieser Zeit immer eine Schlange davor.

Am vierten Tag, zu  unserem Leidwesen, stieg die Temperatur und die Inselflieger gaben bekannt, dass der reguläre Flugverkehr nunmehr wieder aufgenommen würde. Mit Tränen in den Augen fuhren wir in einer Kutsche gemeinsam zum Flughafen und warteten darauf, auf die Chesnas verteilt zu werden. Sieben Minuten nach dem Start berührten unsere Füsse widerwillig wieder Festlandboden. Auf dem kleinen Parkplatz reihten sich Taxen aneinander, die die Ankömmlinge eifrig zu ihren Autos brachten. Autos, Straßen, Schnelligkeit – all das überfordert, wenn man von Juist kommt. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Jemand nahm mich in seinem Auto mit nach Hause, setzte mich vor der Haustür ab, auch das war klar, regelte sich von selbst und am frühen Abend sass ich wieder daheim am Esstisch und berichtete das, was für Elternohren bestimmt war.

Es waren schöne Zeiten, damals, als die Eiszeit nach Juist kam. Vielleicht begreift das die Teenagertochter am Nebentisch auch in ein paar Jahren. Wenn sie ohne ihre Eltern und dafür mit echten Juist-Freunden auf die Insel kommen darf.

 

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Headerbild: Danke an Fotolia_TohPics

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