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Inselflieger

Juist, völlig eingefroren

By 5. Januar 2016 Deutschland, Popular Posts, Unterwegs
Eisstrand Juist 2016

Blitzeis, warnt ein selbstgeschriebenes Schild an der Haustür vom Hotel Pabst. Ein kleiner Junge mit dunkel gelocktem Haar will unbedingt nach draußen. Da rutscht nämlich gerade ein doppelt ungewöhnlicher Anblick vorbei: erstens ist da ein Automobil zu sehen und zweitens handelt es sich dabei um den orangefarbenen Rettungswagen. Dazu muss man wissen, dass auf Juist nur der Arzt, die Feuerwehr und eben das Rote Kreuz Autos besitzen. Alles andere wird mit Pferd und Kutsche erledigt.

Anstatt zu fahren, schlittert der Rote Kreuz-Wagen auf spiegelglatter Fahrbahn die Strandstraße hinunter, dabei kommt er der Hausecke des Hotel Pabst gefährlich nah. Ihn aufzuhalten, scheint unmöglich, das Eis unter seinen Reifen nimmt dem Fahrer jegliche Kontrolle. Eine dick eingepackte Frau mit Socken über den Schuhen – gegen das Ausrutschen – hüpft emsig vor dem Wagen herum und streut eifrig Sand aus einem Eimer auf die vereiste Straße. Wir beobachten das Schauspiel gebannt. Sehr langsam kommt der Wagen schließlich zum Stehen. Puh, denke ich, das war knapp. „Das war es mit den Rettungsfahrzeugen“, sagt die junge Frau neben mir trocken. Der Junge ist enttäuscht, er wollte so gerne das Martinshorn hören.

Draußen zeigt sich bei diesem Wetter kaum eine Menschenseele und wenn, dann ist sie bedeckt mit Eis, geht wie auf Eiern und trägt Socken über den Schuhsohlen, gegen das Eis.

Juist Eiszeit 2016

Eis auf Jacke

Juist, völlig eingefroren

Seit heute Nacht ist Juist eingefroren, überzogen von einer zarten Eisschicht, die das tägliche Leben unmöglich macht. Kein Pferdegetrappel, keine Kutsche, keine Kommandos der Kutscher sind zu hören. Die Insel ist noch mehr als sonst zur Ruhe gekommen.

„Die Leute sollen doch bitte einfach zu Hause bleiben“, sagt die immer noch neben mir stehende Frau kopfschüttelnd. „Wenn sich hier einer ein Bein bricht, kann der Rettungswagen jedenfalls nicht kommen. Eben habe ich doch tatsächlich eine Oma gesehen – mit Rollator. Als ob der etwas bringen würde?“ Etwas beschämt öffne ich denn doch die Tür und traue mich hinaus aufs Eis. Unter ihren kritischen Blicken schaukle ich vorsichtig zuerst in Richtung Dorf und dann nach oben zur Strandpromenade. Am Strand, so glaube ich, wird man jawohl gehen können. Ein naiver Gedankengang.

Eisstrand Juist 2016

Schlitterpartie auf Eis am Strand

Strand mit Eis und Sahne

Der Sand am Strand und an den Strandabgängen liegt da wie versteinert. Genau wie Straßen und Gräser und Zweige samt den letzten Beeren ist alles überzogen von Eis. Ich wage es noch nicht hinunter, zu gefährlich scheint mir der kurze Abstieg und vor allem der Aufstieg. Einige wenige Gestalten sehe ich unten am Wasser, das sich jetzt bei Ebbe weit zurück gezogen hat. Als ich später im Lütje Teehus bei einem Chai Tee Latte sitze, höre ich wie jemand erzählt, dass er bei diesem kalten Ostwind ganz sicher nicht runter zum Meer gehen würde, selbst wenn er könnte. Das käme ja einem Selbstmord gleich. Mhm, alles richtig gemacht, denke ich.

Am nächsten Tag probiere ich es doch. Der Tag beginnt freundlicher, die Juister haben inzwischen weißen Sand auf die Hauptstraßen und die Bürgersteige gestreut. Wie aus langer Haft Entlassene tummeln sich die Gäste draußen auf den Straßen, schließlich hatten sie alle für einen Tag so etwas wie Hausarrest.

Eisstrand Juist 2016

Kurhaus über Eisstrand

Eisstrand Juist mit Kurhaus 2016

Eisig weht der Ostwind

Hundeschlittern

Hunde schlittern auf den gefrorenen Gehwegen herum, Erwachsene lachen sie aus. Kleine Kinder in überdimensionalen Skianzügen und dicken Stiefeln purzeln bei ihren Spielen übereinander. Sie lachen, die Stimmung ist gut. Jeder scheint erfreut über den geschenkten Tag. Vor dem Kurhaus bildet sich eine lange Schlange all derer, die wissen wollen, ob denn nun Morgen ein Schiff fahren wird. Wir haben es nicht eilig und laufen die paar Schritte vom Hotel Pabst zur Strandpromenade hinauf. Gemeinsam wagen wir den Abstieg über das Eis. Unten pustet der Ostwind noch schneidender als oben. Das Gesicht tut weh, die Augen tränen, die Nase läuft sowieso. Wir stiefeln vorsichtig vor bis zum Wasser, überspringen das Pril an einer flachen Stelle und spüren endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Die Nordsee klatscht träge an den Sand, irgendwie teilnahmslos. Für sie ist alles wie immer, ein bisschen Eis. Na und? Ich zücke mein Handy und mache Bilder, wenige, denn die Kälte lässt meine Finger erstarren, nach wenigen Sekunden spüre ich nur noch beißenden Schmerz. Schnell wieder die Handschuhe anziehen, ohne die Finger auszustrecken eine Faust im Handschuh ballen und mich mit dem Rücken gegen den Wind stellen.

„Komm, wir gehen zurück“, rufe ich, „das halte ich nicht aus, zu kalt hier unten.“ Schnellen Schrittes traben wir zurück zum Pril, hüpfen hinüber und rutschen zurück über die wunderschöne Eisfläche zum Strandaufgang. Unterwegs bestaunen wir die eingefrorenen Reste der letzten Flut: Muscheln, Seetang, eine Feder. Wunderschöne Formationen, die die Natur uns präsentiert.

Eisstrand Juist 2016

Nordpol oder Juist?

 

Eisstrand Juist 2016

Wo sind die Schlittschuhe?

Eisstrand Juist 2016

Eisige Kälte und Eis unter den Stiefeln

Eisstrand Juist 2016

Eierlauf

Sanddorn-Grog auf Eis

„Wir sind Zeugen eines vielleicht einmaligen Naturschauspiels“, flüstere ich meiner Begleitung später demütig zu. „Vielleicht erleben wir das hier nur einmal in unserem Leben.“ Er nickt und wir trinken beide einen Schluck Sanddorn-Grog. Ich verstehe nun, warum die Friesen solche Getränke konsumieren.

Sanddorn Grog im Lütje Teehus 2016

Da hilft nur noch: Sanddorn Grog im Lütje Teehus

Am Hafen ist alles eingefroren, höre ich später jemanden erzählen. Es sollen aber Schiffe kommen, heute Nacht während der Flut. Am nächsten Morgen sehr früh um 6:45 Uhr sollen fünf Frisia Fähren ablegen, insgesamt 2.000 gestrandete Gäste müssen aufs Festland gebracht werden. Viel Glück.

Menschenströme eilen so schnell es eben geht bepackt mit Koffern und Fahrradkarren voll Gepäck Richtung Hafen. Ich folge ihnen. Was ist da los? Die, die die Fähren am frühen Morgen nehmen wollen, können jetzt schon ihr Gepäck aufgeben. Damit es später schneller geht.

Eiszeit auf Juist 2016

Eiszeit auf dem Weg zum Hafen

Kommen Se Morgen wieder

„Wissen Sie schon, ob und wann die Schiffe am Mittwoch und Donnerstag fahren?“ frage ich am Schalter der Frisia am Hafen. Schulterzucken. „Kommen Se Morgen wieder.“ Gut.

Im Café Baumann am Schiffchenteich ist jeder Tisch belegt und es gibt nur ein Gesprächsthema: die Abfahrt am nächsten, frühen Morgen. Die Leute sind entspannt, trinken Eierpunsch, Pils oder Grog und essen etwas. Vielleicht ist es ihr letzter Tag auf Juist. „Ich geh später in die Spelunke“, höre ich einen Teenagerjungen am Nebentisch sagen. „Das würde ich mal schön lassen“, erwidert die Mutter. „Du musst Morgen um vier Uhr aufstehen.“ Die Spelunke ist eine der Kneipen auf der Insel, sie sieht genauso aus wie sie klingt und gehört zu den Institutionen, die sich den letzten 20 Jahren zumindest äußerlich kaum bis gar nicht verändert haben.

Am nächsten Morgen beim Frühstück mit noch genau 14 anderen Gästen erfahren wir die News des Tages: eine der fünf Fähren sei, mit 600 Gästen beladen, auf dem Weg vom Juister Hafen nach Norddeich-Mole im Watt stecken geblieben. Zu wenig Wasser unter dem Kiel. Nun dürften die Gäste bis heute Abend um 19:30 Uhr ausharren bis die Flut kommt und ihnen Wasser schickt. Kein vor und kein zurück, so sei es eben. „Das gibt es doch gar nicht“, sagt meine Begleitung. „Ich meine, das müssen die doch sehen!“ „Ja schon“, erwidere ich, „nur: was dann? Wenn das Wasser weg ist, ist es weg.“

Das Schild mit der Warnung vor dem Blitzeis hängt noch immer an der Tür. Vermutlich wird es da auch noch bleiben bis auf Weiteres. Wann wir von der Insel kommen? Mhm. „Kommen Se Morgen wieder.“

Blitzeis draußen - Juist Hotel Pabst 2016

Blitzeis draußen – Wärme drinnen im Hotel Pabst

Links:

Eiszeit auf Juist – ein nostalgischer Rückblick  

Passagiere stecken vor Juist mit der Fähre fest – NDR.de

 

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Eiszeit auf Juist – ein nostalgischer Rückblick

By 5. Januar 2016 Deutschland, Popular Posts, Unterwegs
Juist - Fotolia _TohPics

„Ich hab kein Bock mehr! Wieso fahren wir auch auf diese bescheuerte Insel, von der man nicht mehr runter kommt?“ Ein Teil aus einem Sketch? Nee, die pure Wahrheit. Ich sitze im Lütje Teehus und es gibt nur ein Thema: die Eiszeit auf Juist. Es wird gesprochen vom Ostwind, der das Wasser wegbläst, von sich dem Ende neigenden Lebensmittelvorräten auf der Insel, von Naturgewalt, für die ja keiner was kann und von Arbeitgebern, die damit leben müssten. “Bei Naturgewalt muss man sich keinen Urlaub nehmen”, ist sich ein Herr am Nachbartisch sicher. Fakt ist: keiner kommt derzeit weg von Juist. Die Schiffe können nicht passieren und die Flieger nicht starten, denn zum scharfen Ostwind hat sich Eisregen gesellt. Ausnahmezustand.

Eiszeit auf Juist

Eiszeit auf Juist so wie ich es als 17jährige in Erinnerung habe – @Fotolia_TohPics

Pferdepause – Juist versinkt im Eis

Der Hund schlummert faul unter dem Tisch, er scheint die unfreiwillige Pause seiner Herrchen zu geniessen. Meine vier Tischnachbarn samt pubertierender und sichtlich genervter Tochter schlagen die Zeit tot. Wie alle hier, denn draußen bewegen kann man sich nicht, viel zu glatt geschliffen sind die eisverkrusteten Straßen und Wege. Kein Pferdegtrappel, keine Kutschen, keine Fahrräder, nur wie auf Eiern laufende, schlitternde Menschen und Hunde, erstere dick eingepackt in alles, was der mitgebrachte Kleiderschrank her gibt. „So ist das eben auf Juist“, bemerkt die Mutter trocken. “So ist die Natur und damit müssen wir uns abfinden.” “Is’ doch scheiße”, grummelt die Tochter entnervt und nimmt noch einen Schluck Kakao.

Ein nostalgischer Rückblick

Ich saß zuletzt fest, als ich in der 12. Klasse war. Damals, mit 17,  hatte ich Silvester auf Juist verbracht, wir hatten es krachen lassen, mit Insel-Freunden, also solchen Freunden, die ich nur von der Insel kannte. Irgendwann waren wir uns über den Weg gelaufen, am Strand, im Zappel, der Inseldisco, oder im Köbes, der Inselkneipe, in die man eben ging. Man freundete sich an und wir trafen uns in diesen Jahren regelmäßig zu Silvester, Pfingsten und manchmal auch im Sommer.

Ausziehen, bitte! Bettgeschichte im Anmarsch!

Wir wohnten in für friesische Verhältnisse günstigen, aus heutiger Sicht zumeist recht grauseligen 70er Jahre-Unterkünften, mal allein, häufiger zu zweit mit mehr oder weniger bekannten Gesichtern, das war ja auch egal, damals, als es einzig darum ging, auf die Insel zu kommen und möglichst viel zu feiern und möglichst wenig zu schlafen. Das klappte immer gut. Ab und zu musste das Zimmer geräumt werden. Das geschah immer dann, wenn der oder die Zimmergenossin eine Bettgeschichte anschleppte. Dann musste man sehen, wo man blieb. Das war ok, da hielten wir zusammen.

In diesem Winter bedauerte ich das Hängenbleiben auf der Insel keinen einzigen Augenblick, denn ich war verliebt. Nicht nur in Juist sondern noch dazu in einen Jungen, einen Sänger mit langen, lockigen Haaren. Er studierte schon während ich das leidige Abitur vor mir herschob. Ich fühlte mich ständig zwischen Weinen und Lachen, Fliegen und über Wolken gehen. In meiner Erinnerung war es eines der wunderschönsten Silvesterfeste meines Lebens. Wir feierten im ersten Stock der damaligen In-Kneipe Köbes bis in den Morgen hinein, schliefen ein paar Stunden, um uns alsbald wieder zum Frühschoppen vor der Tür desselbigen zu treffen. Die Tage verrannen wie Sand zwischen den Fingern, natürlich viel zu schnell. Und das, obwohl wir unsere Uhren mit einem Juist-Aufkleber abgeklebt hatten, das machten wir zu der Zeit immer sobald wir die Fähre nach Juist betraten. Der Ausnahmezustand konnte beginnen und das tat er jedes Mal zuverlässig, doch zu unserem Leidwesen kannte die Zeit schon damals keine Gnade. Sie trabte trotzdem munter weiter und wir taten alles dafür, sie mit möglichst viel Inhalt zu füllen: reden, feiern, rauchen, spazieren gehen (einige von uns taten das natürlich nie) und bloss nicht schlafen.

Juist - Winterstaub

Juist – Schneestaub auf der Bank im Loog auf dem Weg zum Hammersee – wie damals @Fotolia_mahey

Kein Entkommen – und noch ein Grund mehr zum Feiern!

Als klar wurde, dass aufgrund des strammen Ostwinds und wabernden Nebels weder Fähre noch Flieger irgendjemanden von der Insel würde transportieren können, jubelten wir wie die Könige und empfanden die geschenkte Zeit als das größte Glück der Erde. 24 oder gar 48 Stunden mehr auf unserer Insel, mehr Zeit zusammen, mehr Zeit ohne Schule und Eltern und Verpflichtungen, die hier auf Juist nichts verloren hatten. Schnell war ausgemacht, wer wo mit wem übernachten könnte – um Geld zu sparen und sowieso. Es lief alles wie von selbst, war glasklar auch ohne viele Worte.

Einige der älteren Juistfreunde sahen die Sache weniger entspannt, sie hatten wichtige Termine und glaubten, dringend zurück zu müssen. Mir war das damals unverständlich. Ab dem zweiten, unfreiwillig auf Juist verbrachten Tag saßen sie auf gepackten Koffern, telefonierten ständig mit den Inselfliegern und machten sich ein ums andere Mal zum Flughafen auf in der Hoffnung, es vielleicht doch auf einen der Flieger  zu schaffen. Am dritten Tag hatte sich der Bekanntenstamm merklich reduziert, die meisten  waren ausgeflogen.

Wir anderen hätten vermutlich ewig auf der Insel bleiben können, wen interessierte schon die Schule und das bevorstehende Abi? Die paar Tage, mein Gott. Meine Eltern glaubten mir erst, nachdem eine kurze Meldung in der FAZ erschienen war und ihnen schwarz auf weiss bestätigte, dass mehrere hundert Gäste auf Juist festgesessen hatten. Handys gab es damals noch nicht, keine sozialen Kanäle, die etwas von der Insel hätten twittern können. Es gab genau drei Telefonzellen auf Juist, sie standen gleich neben der katholischen Kirche und es bildete sich meistens und zu dieser Zeit immer eine Schlange davor.

Am vierten Tag, zu  unserem Leidwesen, stieg die Temperatur und die Inselflieger gaben bekannt, dass der reguläre Flugverkehr nunmehr wieder aufgenommen würde. Mit Tränen in den Augen fuhren wir in einer Kutsche gemeinsam zum Flughafen und warteten darauf, auf die Chesnas verteilt zu werden. Sieben Minuten nach dem Start berührten unsere Füsse widerwillig wieder Festlandboden. Auf dem kleinen Parkplatz reihten sich Taxen aneinander, die die Ankömmlinge eifrig zu ihren Autos brachten. Autos, Straßen, Schnelligkeit – all das überfordert, wenn man von Juist kommt. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Jemand nahm mich in seinem Auto mit nach Hause, setzte mich vor der Haustür ab, auch das war klar, regelte sich von selbst und am frühen Abend sass ich wieder daheim am Esstisch und berichtete das, was für Elternohren bestimmt war.

Es waren schöne Zeiten, damals, als die Eiszeit nach Juist kam. Vielleicht begreift das die Teenagertochter am Nebentisch auch in ein paar Jahren. Wenn sie ohne ihre Eltern und dafür mit echten Juist-Freunden auf die Insel kommen darf.

 

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Headerbild: Danke an Fotolia_TohPics

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